von Hannah Klug / Wunderbare Welt der Oper
10. November 2019
Der Witwer Paul hat seine geliebte Frau Marie, vermutlich an eine schwere Krankheit, verloren und hat sich irgendwo zwischen Verlust
und Trauer in seiner eigenen Scheinwelt verloren. Der heilende Prozess der Trauer und Verarbeitung hat bei ihm niemals eingesetzt. Paul hat sich in seine eigene Welt verschlossen. Seiner Frau Marie hat er eine Art Schrein errichtet,wo er eine Haarlocke, einen Schal und ihre Laute aufbwahrt. Den Ort nennt er "die Kirche des Gewesenen". Niemand kommt wirklich an den jungen Witwer heran. Im Gegenteil, seine Umwelt ist überfordert mit der Situation und Pauls Verhalten. Eigentlich gibt es nur zwei Menschen, die Paul überhaupt annähernd an sich heranlässt; Brigitta, seine Haushälterin und Frank,seinen besten Freund. Insbesondere dem besten Freund würde man wohl heute empfehlen, sich Hilfe von einem erfahrenen Therapeuten zu holen, da im Stadium, in dem sich Paul befindet, eine sehr behutsame Herangehensweise unbedingt notwendig ist. Der Hauptprotagonist in Korngolds toter Stadt hat den gesamten Trauerprozess verdrängt und ist überhaupt nicht mehr in der Lage, seine verstorbene Frau loszulassen. So kommuniziert er weiter mit Marie ,die ihm in einer Vision begegnet und ihm vorraussagt, dass er bald wieder mit ihr vereint sein wird. Eine Tatsache, die vollkommen unmöglich ist. So entgleitet ihm die Realität immer mehr oder der Realität entgleitet Paul.
Die Folge sind psychotische und wahnhafte Zustände, in denen sich der Protagonist immer mehr verliert.
Trauer ist ein ganz natürlicher und vor allem notwendiger Prozess, den wir durchlaufen müssen, um den geliebten Menschen loszulassen und ins Leben zurückkehren zu können.
Der Psychologe Hansjörg Znoj antwortet in einem Interview von Geo kompakt, in dem es um unseren Umgang mit dem Tod geht auf die Frage: Weshalb gibt es überhaupt ein auf den ersten Blick so unnützes Gefühl wie Trauer? Ein Gefühl, das viele Menschen so schwer belastet?
"Trauer ist zweifellos ein höchst unangenehmes Gefühl. Aber ohne diese könnten wir keine festen Bindungen eingehen, denn dann wäre uns alles gleichgültig. Anders ausgedrückt: Trauer ist das Nebenprodukt unser Beziehungsfähigkeit. Wenn ich mich einem anderen Menschen tief verbunden fühle, sei es meinem Partner, dem Kind oder einem Elternteil,so nehme ich den anderen immer auch als einen Teil von mir selbst wahr, dann verschmelze ich sogar mit dieser Person. Wenn dann dieser Teil wegfällt, fühle ich mich plötzlich nicht mehr ganz. Dazu kommen körperliche Symptome wie eine Schwächung des Immunsystems und eine vermehrte Ausschüttung von Stresshormonen. Kurz gesagt: Trauer ist gewissermaßen der Preis für die Liebe"
Da es in Erich Wolfgang Korngolds toter Stadt um das Thema der unbewältigten Trauer geht, möchte ich bezüglich dessen noch einmal den Psychologen Hansjörg Znoj zu Wort kommen lassen. Im Anschluss soll es noch um die Trauerphasen nach Verena Kast gehen. Die Schweizer Psychologin benennt in ihrem Buch "Trauern" vier Trauerphasen, die uns helfen sollen, dieses Thema noch besser zu verstehen und auch, warum dieser Prozess so unendlich wichtig ist. Zunächst lasse ich aber noch einmal Hansjörg Znoj zwei weitere Fragen beantworten, die eng mit der Situation von unserem Protagonisten Paul zusammenhängen.
Was ist eine "anhaltende Trauer" ?
"Bei zwischen fünf und zehn Prozent der Trauernden kommt es zu einer pathologischen Entwicklung, die oft mit Angstzuständen, Panikattacken und Depressionen verbunden ist. Es findet keine Anpassung an die neue Situation statt, das soziale Umfeld wird vernachlässigt, man kann den Beruf nicht mehr ausüben und vereinsamt. Häufig tritt so etwas bei Hinterbliebenen auf, die eine eher
komplizierte Partnerschaft zum Toten hatten; in dem Fall kommen oft Schuldgefühle hoch. Man kann nicht loslassen, weil die Beziehung schon schwierig war."
Wie erkenne ich, ob jemand in seiner Trauer therapeutische Hilfe braucht?
"Es gibt Warnzeichen: zum Beispiel wenn sich jemand von allen Kontakten abschottet, sich über längere Zeit isoliert, ein extrem schwaches Nervenkostüm hat. Wenn man sieht, dass der Mensch sich gehen lässt, verwahrlost, wenn möglich noch ein hoher Alkoholkonsum hinzukommt. Auch wenn jemand über sehr lange Zeit nicht arbeitsfähig ist, kann das ein Warnzeichen sein, weil es bedeutet, dass er mit der normalen sozialen Situation nicht gut zurechtkommt."
Die Trauer ist ein ganz individueller Prozess. Kein Mensch trauert genau gleich. Es gibt keine Empfehlung, keine Leitlinie, kein Rezept, wie man am besten trauert. Jeder Mensch muss seinen eigenen Weg finden und ihn selbst gehen. Ich habe das in meinem Beruf als Krankenschwester so oft erlebt und viele Menschen ihren letzten Stunden begleitet, genau wie ihre Angehörigen. Es gibt keine Zeitangabe, wie lange es dauert, die Trauer zu bewältigen oder wann Schmerz weniger wird. Wir müssen akzeptieren, dass der Tod, der Verlust und auch der Schmerz ein Teil unseres Lebens sind. Das Leben ist niemals unendlich, alles Ding und jeder Mensch auf Erden hat seine Zeit. Anhand der vier Trauerphasen, die die Schweizer Psychologin Verena Kast in ihrem Buch Trauern benennt, wird aber deutlich, dass es einen Trauerprozess gibt und geben muss, um loszulassen und ins Leben zurückzukehren. Trauer vollzieht sich in unterschiedlichen Phasen und über einen längeren Zeitraum. Diese Trauerphasen beschreibt Verena wie folgt.
Jede einzelne Trauerphase hier genau zu beschreiben würde zu lange dauern. Daher werde ich nur die ersten zwei Phasen hier aufschreiben, da sie meiner Meinung nach für die Handlung besonders wichtig scheinen.
Nach der Nachricht vom Tod eines geliebten Menschen tritt oft ein Schock ein. Die Angehörigen wollen diesen Fakt erstmal nicht wahrhaben. Sie glauben, es handle sich um einen Irrtum.Auch, wenn sie die Person beim Sterben begleitet haben. Eine Zeitlang wirken die Hinterbliebenen gefühllos. In Wahrheit sind ihre Gefühle erstarrt. Sie fühlen sich selbst wie tot. In dieser Phase ist die Unterstützung von helfenden Personen sehr wichtig. Sie können Alltagsverrichtungen übernehmen. Hilfe, jedoch nicht Entmündigung, ist angesagt. Helfende sollen unbedingt ihren Gefühlen freien Lauf lassen, das heißt, sie dürfen auch weinen.
Der Trauernde ist wütend. Diese Wut bekommen Ärzte, aber auch Angehörige zu spüren. Manchmal wird eine Schuld am Tod des geliebten Menschen gesucht, bei anderen, aber teilweise auch bei sich selbst. Vieles, was man mit dem Verstorbenen zu dessen Lebzeiten nicht mehr klären konnte , bricht auf. Aber es kommen auch schöne Erinnerungen an die gemeinsame Zeit. Diese aufbrechenden Emotionen sind sehr wichtig und müssen von betreuenden Personen ernst genommen werden. Am besten halten Sie sich in dieser Phase mit der eigenen Sicht der Dinge zurück und konzentrieren sich darauf, ein guter Zuhörer zu sein.
Verena Kast weiß: "Das Emotions-Chaos ist ein Bild für das Chaos ganz allgemein, in dem Altes verschwindet und Neues sich bilden kann.
Doch was muss passieren, damit Trauerarbeit "gelingt"?
Verena Kast erzählt aus ihrer Praxis: "Um wirklich trauern zu können, um den Verlust aufzuarbeiten, ist die Bereitschaft sowohl des Trauernden als auch seiner Umgebung nötig, Tod und Trauer zu akzeptieren. Es ist nötig, dass die ganze schreckliche Verzweiflung als solche akzeptiert und als der Lebenssituation angemessen betrachtet wird. Wenn dieses gegeben ist, dann hat Trauer ihren Raum und führt zu neuen stärkeren Lebensmustern."
Der Witwer Paul in Erich Korngolds toter Stadt hat diesen reinigenden und notwendigen Trauerprozess nie begonnen. Den Tod seiner
Frau Marie hat er nie verarbeitet. Als Folge seiner unbewältigten Trauer hat er sich in seine eignene Welt zurückgezogen. Er hat seine verstorbene Frau zur Heiligen idealisiert. Ihre Haarlocke gleicht einer Reliquie, die Paul in einer Art Schrein verwahrt, zusammen mit deren Laute und Schal. Dieses Ideal, das er sich erschaffen hat, entspricht nicht dem realen Menschen, der sie war. Er blockiert mit dieser Idealisierung seine Trauergefühle bezüglich des realen Menschen mit all seinen Stärken, aber auch Schwächen. Der junge Witwer vermeidet jegliche Art von Schmerz und das unerträgliche Gefühl von Verlassenheit. Möglicherweise verdrängt er auch die Trauer über das, was vielleicht nicht gelebt und realisiert wurde. Er vermeidet, sich damit zu beschäftigen, weil er den Schmerz nicht ertragen würde.
Paul lebt nicht nur in Brügge, die tote Stadt lebt auch in ihm, ist gleichfalls ein innerer Ort, an dem es kein Leben mehr gibt.
Seine Vision von Marie im ersten Akt(sie prophezeit ihm, dass er sie bald wieder ganz besitzen werde) kann man als Wunsch sehen, der tief aus seinem Inneren kommt. Es ist ein ganz und gar unerfüllbarer Wunsch. Der einzige Weg, wieder mit seiner Frau vereint zu sein, wäre nach seinem eigenen Tod. Da Paul als ein sehr gläubiger Mensch dargestellt wird, wäre die Selbsttötung für ihn eine Todsünde und käme nicht in Frage. So flüchtet er sich noch tiefer in seinen Wahn und eine Welt, zu der nur er Zutritt hat. Man könnte diese Vision auch als Todessehnsucht des Protagonisten interpretieren. Ein ebenfalls unerfüllbarer Wunsch.
Der Traum oder die Wahnvorstellung im zweiten bzw. dritten Akt, die sich nur in Pauls Phantasie abspielt, in seinem Kopf, hat in erster Linie mit seinem Unbewussten zu tun. Es tauchen Bilder und Gefühle auf, die im Wachsein zensiert werden, z.B alle negativen Gefühle wie Enttäuschung, Wut und Hass. Er kann nicht wirklich lieben, weil er seine Frau nicht loslassen kann. Es wird nicht sichtbar, was zu Maries Lebzeiten gewesen ist, wie die Ehe wirklich war. Vielleicht hat seine Frau ihn betrogen, anderen Männern schöne Augen gemacht. In seinem Traum könnte die Verführungsszene von Marietta das Sinnbild dafür sein. Vielleicht war Paul auch furchtbar eifersüchtig, hat sie zu unrecht beschuldigt und ist nun voller Schuldgefühle. Er konnte sie möglicherweise nicht mehr um Verzeihung bitten. So viel Ungesagtes bleibt im Raum. Der junge Witwer bleibt zurück mit all seinem Schmerz und seiner Trauer, die er bisher nicht zugelassen hat . Alle diese nicht verarbeiteten Gefühle brechen sich in seinem Traum nun Wege und Bahn.
Die Situation in Pauls Traum oder Wahnvorstellung eskaliert, als Marietta ihn zuerst massiv provoziert und dann das größte Sakrileg begeht, das es für ihn geben kann. Sie verhöhnt ihn und schändet seine "Kirche der Gewesenen", indem sie die heiligste Relique, Maries Haaarlocke, entweiht und auch sie zugleich als Heilige. Das ist zuviel für den labilen Paul. Er erwürgt Marietta mit eben dieser Haarlocke. Irgendwann, am Ende des dritten Aktes, erwacht Paul und stellt fest, dass er all das schreckliche Geschehen nur geträumt hat.
Im Traum ist sämtliche Zensur aufgehoben, dort verarbeiten wir alles, auch und besonders das, was verdrängt wurde. Trauerarbeit bedeute, alle(!) Gefühle zuzulassen, auch die negativen. Das anzunehmen und zu akzeptieren, kann sehr schmerzhaft sein. Wenn der Trauerprozess nicht begonnen und der Schmerz zugelassen wird, kann die Folge eine schwere Depression sein. Man spricht auch von einer lavierten Depression in dem Zusammenhang. Der Mensch(Angehörige oder Hinterbliebene) funktioniert nach außen hin, stirbt aber innerlich immer mehr ab. Am Ende könnte die Konsequenz des Handelns der Suizid sein. Eine weitere Folge könnte, wie möglicherweise in der toten Stadt von Korngold angedeutet, eine wahnhafte Psychose sein, auch mit Ausbrüchen von Wut und Gewalt.
Fazit: Protagonist Paul muss auch einen Weg finden, die innere tote Stadt zu verlassen. Nur ein Ortswechsel wäre nicht ausreichend. Erst dann kann der so wichtige und heilende Trauerprozess einsetzen und Tränen und Schmerz werden endlich
zugelassen. Nur wenn Paul dieses alles gelingt, hat er die Chance, irgendwann wieder neue Liebe zu geben und zu empfangen.
Dass nach solch einem Traum oder einer Phantasie, wie der Protagonist ihn in der toten Stadt erlebt, eine sogenannte Katharsis die Folge ist,( in der Psychologie steht der Begriff für psychische Reinigung durch Ausleben innerer Konflikte und verdrängter Emotionen, speziell von Agressionen), ist wohl ziemlich unwahrscheinlich. Insbesondere, wenn es sich tatsächlich um eine Psychose handelt oder eine schwere Depression. Eine stationäre Langzeittherapie wäre dann wohl dringend angeraten.