Von Hannah Klug / Wunderbare Welt der Oper
22. Januar 2022
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Das Individuum als Teil der Gesellschaft, der einzelne Mensch gegen die Gesellschaft, ausgegrenzt, vorverurteilt, gehetzt, gejagt, getrieben zu Taten, die ihn noch weiter ins Abseits befördern. Der Einzelne soll seine eigenen Bedürfnisse der Gemeinschaft unterordnen, soll den Normen entsprechen und sein Handeln den vorgebenen Gesetzen und Werten anpassen. Wer vorverurteilt ist, hat nur wenig Chancen, Teil der Gesellschaft zu sein, zu werden oder in diese zurückzukehren. Jeder von uns ist gleichzeitig Individuum und Teil der Gemeinschaft. Wir haben den Wunsch, in unserer Einzigartigkeit an- und wahrgenommen zu werden, sehnen uns aber auch nach einem festen Platz in der Gesellschaft. Anerkennung zu finden durch bestimmte Leistungen, die wir erbracht haben, auch zum Wohle aller oder einer bestimmten Gruppe, zum Beispiel in unserem Arbeitsbetrieb. Wer sich aber absondert, ein Einzelgänger ist, wird mit Argwohn und Misstrauen von der Gesellschaft betrachtet und gegebenenfalls zum Sündenbock für bestimmte Missstände gemacht, für die niemand bereit ist, die Verantwortung zu übernehmen. Es ist manchmal erschreckend einfach, einen Menschen ins Abseits zu drängen: in einer Gemeinschaft, einem Dorf, dem Kollegenkreis (hier ist dann von 'Mobbing' die Rede), einer Schulklasse, aber auch durchaus in Familien, in denen es um viel Macht und Geld geht und - nicht zu vergessen - in der Politik. Je stärker die Gruppe ist, desto mehr ist sie in der Lage, das Individuum zu unterdrücken, auszugrenzen und zu Taten zu verleiten, die am Ende nur aus Verzweiflung und Hilflosigkeit geschehen.
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Die Titelfigur in Benjamin Brittens Musikdrama ist ein Außenseiter in seiner Heimatstadt, gilt als harter und jähzorniger Einzelgänger, mit dem niemand etwas zu tun haben will, ausgenommen die Lehrerin Ellen Orford. Sie ist der einzige Mensch, die dem Sonderling Sympathie entgegenbringt, an das Gute in ihm glaubt, bereit ist, ihm zu helfen. Und sogar noch mehr: Die junge Frau liebt den Einzelgänger Peter Grimes, wünscht sich eine Hochzeit mit ihm und ein gemeinsames Leben. Dieser ist aber getrieben von dem Gedanken, sich zuerst genug Geld zu erfischen und sich damit Macht und Ansehen in der Dorfgemeinschaft zu erkaufen. Ein Unterfangen, das von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist, da diese längst beschlossen hat, den Einzelgänger nicht mehr in ihrer Mitte aufzunehmen. Alles, was Grimes versucht, wird ihm die ersehnte Anerkennung nicht bringen. Durch sein Verhalten, auch gegenüber seinem neuen Lehrling, den er dauernd zu noch mehr Leistung antreibt und so mutwillig in Gefahr bringt, was den Jungen letztlich das Leben kostet, besiegelt er am Ende sein eigenes Schicksal, nur nicht so, wie er es sich gedacht hatte. Der einsame Mann weiß nicht, wohin mit seiner unkontrollierten Wut, die in ihm ruht, und so entlädt sich diese auch gewaltvoll gegen den einzigen Menschen, der ihn aufrichtig liebt, und gegen seinen unschuldigen Lehrjungen John. Peter Grimes entspricht nicht der Norm der Gesellschaft, er ist extrem instabil, hat erhebliche soziale und psychische Defizite, neigt zu Wutausbrüchen und ist nicht in der Lage, seine Gefühle in Worte zu fassen. Er lässt niemanden an sich heran, hat gelernt, sich zur Wehr zu setzen und gegen die ganze Welt in den Kampf zu ziehen. Während sich diese Verhaltensmuster durch den Druck von außen zunehmend verstärken, vereinsamt Grimes immer mehr. Seine gequälte Seele ist überzogen von zahlreichen Narben, wodurch sich sein Herz jeder Zuneigung verschlossen hat.
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Dieses Anderssein verwehrt dem Ausgestoßenen von vornerein die selben Chancen wie dem Rest der Dorfgemeinschaft. Wäre alles anders gekommen, hätten die Menschen ihn mit all seinen Defiziten akzeptiert, ihn in seinen Stärken unterstützt und gefördert? Oder sind die Menschen um ihn herum selber so geprägt von unzähligen Defiziten, dass sie diese nur im Schutz der Masse und durch entsprechende Anpassung verbergen können? Sie sind nur in der Gemeinschaft stark, stellen ihre persönlichen Bedürfnisse hintan. Das Schicksal des Einzelnen wird gnadenlos den Vorgaben, Werten und Normen der Gesellschaft untergeordnet. Somit sind am Ende die liebende Lehrerin Ellen Orford und der Lehrjunge John nur Kollateralschäden, die zum Wohle der Gemeinschaft in Kauf genommen werden. Der reibungslose Ablauf und der Frieden, der kein echter ist, darf unter keinen Umständen gestört werden. Und wer sich nicht anpassen kann, hat verloren. Aber muss die Situation in diesem Fall für Peter Grimes wirklich so aussichtslos und grausam sein? Ist nicht auch ein einzelner Mensch in der Lage, diesen fixierten Ablauf umzukehren und in etwas Positives zu verwandeln? Ich denke, ja! Aber dazu braucht es im Zweifelsfall sehr viel Mut und Kraft! Ellen Orford hat den Wunsch, sich für den Einzelgänger einzusetzen, aber letztlich gelingt es ihr nicht, alles zum Guten zu wenden. Am Ende ordnet auch sie sich wieder der Gemeinschaft unter. Und auch der alte und gutmütige Kapitän Balstrode rät Grimes schließlich, sich samt seines Bootes auf hoher See zu versenken. Zuvor hatte der Außenseiter den Vorschlag abgelehnt, das Dorf zu verlassen oder ohne jegliches Vermögen Ellen Orford zu heiraten. Er will auf keinen Fall, dass sie ihn aus Mitleid zum Mann nimmt. So begeht er den nächsten fatalen Fehler und verstößt aus Furcht, niemals akzeptiert zu werden, gegen die nächste Regel: Er geht am Sonntag fischen, während die anderen Dorfbewohner, wie es sich ziemt, die Kirche besuchen. Als er dann auch noch die Frau, die ihn wahrhaft liebt, zurückstößt und beleidigt, gibt es keinen Weg zurück mehr für ihn.
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Die Geschichte von Peter Grimes mag für die meisten von uns weit entfernt sein, ist aber leider keine Fiktion fernab der Realität. Allzu schnell kann
der Mensch an den Rand der Gesellschaft geraten und ausgegrenzt werden. Eine getroffene falsche Entscheidung in unserem Leben und schon bewegt sich die Abwärtsspirale nach unten. Teil einer
Gemeinschaft zu sein, kann etwas Wunderbares und Einzigartiges bedeuten, bringt aber auch eine große Verantwortung mit sich, der wir uns jederzeit bewusst sein sollten. Verantwortung übernehmen,
sich einsetzen für jeden Einzelnen und Rückgrat beweisen, auch wenn dies Mut erfordert. Die Gemeinschaft kann ihre Kraft nur dann entfalten, wenn sichergestellt wird, dass das Anderssein
jeglicher Art ein Geschenk und kein Makel ist, den man vor der Welt zu verstecken hat. Es muss bestimmte Regeln und Gesetze geben, die jeder zu befolgen hat, ansonsten würde bald Anarchie
herrschen, sei es in der Weltpolitik oder in der kleinsten Dorfgemeinschaft. Jeder von uns kann seinen Teil dazu beitragen, dass die Welt, in der wir leben, und unser eigener kleiner Kosmos von
Gerechtigkeit, Vergebung, Liebe und Güte erfüllt sind. Das alles mag sehr 'hehr' klingen, aber ich glaube fest daran. Möglicherweise hätte es in Benjamin Brittens Musikdrama, auch wenn es nur
eine erfundene Geschichte ist, für Peter Grimes, Ellen Orford und den Lehrjungen John ein gutes Ende geben können. Wer weiß...?
Jetzt bin ich schon sehr gespannt auf die Wiederaufnahme an der Wiener Staatsoper nächste Woche am Mittwoch, 26. Jänner. Ich bin sicher, es steht uns ein aufwühlender, fesselnder und unvergesslicher Opernabend mit einer überragenden Besetzung bevor. Den Beitrag mit meinen Eindrücken gibt es nach der letzten Vorstellung am 8. Februar auf meinem Blog zu lesen.
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Die Musik vermittelt
das innerste Seelenleben
von einem Gemüte zum anderen
am unmittelbarsten
(Hermann Ritter)