Manon Lescaut - gefangen zwischen Liebe und Luxus

Wiederaufnahme an der Wiener Staatsoper

      Von Hannah Klug / wunderbare Welt der Oper

                     8. Februar 2022


(C) Michael Pöhn / Wiener Staatsoper


Ein Werk von Giacomo Puccini gehört mit Sicherheit zu den intensivsten Erlebnissen, die man in der Oper erfahren kann. Die Musik ist so stark und so intensiv, dass sich die Gefühle damit ganz unmittelbar in die Herzen der Zuhörer transportieren lassen. Unvermittelt treffen Schmerz, Verzweiflung, Freude und Leid direkt ins Herz. - aufwühlend, bewegend, ergreifend. Die Schicksale der Figuren und ihr Empfinden spiegeln sich in jeder Note, in jedem Wort wider und reißen nicht nur die Zuschauer im Saal mit sich fort, sondern auch die Protagonisten auf der Bühne - so stark ist die Kraft dieser Musik! Es gibt aber eine Besonderheit bei Puccini, die genau diese Wirkung verursacht, gleichzeitig aber nach Sängern verlangt, die sich durchsetzen können: Der Komponist doppelt nämlich die Notation für die Gesangsstimme mit der des Orchesters. Eine Tatsache, die eine unvergleichbare Sogwirkung hat, es aber manchem Sänger schwer macht, über das Orchester zu singen., ohne dabei die vorgegebene Gesangslinie zu verlieren. Wenn jedoch alles zusammenläuft, dann ist das Erlebnis für Sänger, Musiker und die Opernbesucher unvergesslich und erzeugt eine Sucht, diese Gefühle immer wieder spüren zu wollen. Gestern Abend bei der zweiten Vorstellung von Manon Lescaut an der Wiener Staatsoper waren all diese Voraussetzungen gegeben, und sie wird mir sicher für sehr lange Zeit in Erinnerung bleiben.

(C) Michael Pöhn / Wiener Staatsoper


Die Inszenierung von Robert Carsen war insbesondere im ersten und zweiten Akt sehr stimmig und fügte sich gut in die Geschichte und das Schicksal von Manon Lescaut ein, unterstrich die Musik und bot den Sängern genug Gelegenheit, um ihre Figuren zum Leben zu erwecken und glaubhaft ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Modern inszeniert hieß in diesem Fall nicht, das Werk zu verraten, sondern es zu ehren und in seiner mitreißenden Kraft zu unterstützen. Einige Eindrücke vermitteln die offiziellen Pressefotos in diesem Beitrag. Daher werde ich weniger auf diese Bühnenproduktion eingehen, dafür aber umso mehr auf die Leistungen der überragenden Sänger des gestrigen Abends und den unglaublichen Sog von Puccinis Musik. Die Besetzung dieser Wiederaufnahme-Serie ist hervorragend und passend bis in die kleineren Partien besetzt, zum Beispiel mit dem jungen amerikanischen Tenor Josh Lovell, auf den mich eine liebe Freundin aus Wien aufmerksam gemacht hat. Er übernimmt gleich drei Rollen an dieser Wiederaufnahme; Edmondo, den Studenten im ersten Akt, den Tanzmeister im zweiten Akt und den Laternenanzünder im dritten Akt; hier natürlich angepasst an die Inszenierung. Ganz besonders beeindruckend wirkte der russische Bass Artyom Wasnetsov als Geronte de Ravoir, nicht nur aufgrund seiner Größe von sicher zwei Metern, sondern auch aufgrund seiner sonoren kraftvollen Stimme und einer ehrfurchterregenden Bühnenpräsenz. Ein Name, den man sich auf jeden Fall merken sollte: Artyom Wasnetsov, geboren 1992 in Samara/Russland. Seit September 2020 ist der junge Opernsänger Mitglied im Opernstudio der Wiener Staatsoper. Ihm steht sicher eine ganz erfolgreiche Karriere bevor. Aufmerksam gemacht hat mich auf ihn übrigens eine junge russische Gesangsstudentin, die in Wien am Konservatorium studiert. Liebe Marina, dieser Tipp war Gold wert.

(C) Michael Pöhn / Wiener Staatsoper


Die drei Hauptdarsteller waren exzellent besetzt, so auch Lescaut, der Bruder der Titelfigur, mit Boris Pinkhasovich. Der russische Bariton ist seit September 2020 Ensemblemitglied an der Wiener Staatsoper und eine ideale Wahl für die Partie in Puccinis Musikdrama. Seine Stimme ist warm, angenehm in der Färbung, variabel, ausdrucksstark und dramatisch. Auch die darstellerischen Qualitäten sind in hohem Maße vorhanden, und so erschafft der Opernsänger ein überzeugendes Gesamtbild von Lescauts Charakter, der es eigentlich allen recht machen möchte, aber auch sich selbst ein schönes, entspanntes und angenehmes Leben bescheren möchte, wenn möglich auf Kosten seiner Schwester und ohne allzu große Verantwortung.

Als Lescauts On-Off-Liebe Renato Des Grieux ist in der Wiederaufnahme der amerikanische Tenor Brian Jadge zu erleben, der zum Beginn der Saison im Haus zusammen mit Elīna Garanča und Ermonela Jaho sein gefeiertes Rollendebüt als Maurizio in Francesco Cileas Oper "Adriana Lecouvreur" gab. Nun also Renato

Des Grieux an der Seite von Asmik Grigorian. Im Livestream von Adriana Lecouvreur konnte mich der junge Opernsänger noch nicht wirklich überzeugen, möglicherweise war eine Indisposition der Stimme die Ursache. Gestern Abend konnte auch ich mich von seinem großen Talent überzeugen. Der Stimmumfang ist beeindruckend, Kraft und Lautstärke sind gewaltig. Eine Tatsache, mit der Brian Jadge noch ein wenig besser umgehen lernen muss, um seine Stimme besser auf die Größe der unterschiedlichen Häuser anzupassen. Es war gestern eigentlich kaum mal ein Piano zu hören. So tönte die Stimme zwar kraftvoll und ausdrucksstark und konnte mühelos über das Orchester gelangen, klang aber meist sehr unvariabel, was es manchmal schwierig machte, die verschiedenen Gefühlsebenen seiner Figur herauszuhören. Die Forte-Ausbrüche in Des Grieuxs Momenten von Wut, Angst und Verzweiflung waren die stärksten, sie fesselten und brachten die Gefühlswelt des jungen Mannes spürbar zum Ausdruck. Es sind alle Anlagen vorhanden, es fehlt nur ein gewisser Feinschliff. Einige Worte noch zu den darstellerischen Fähigkeiten des Amerikaners, gerade neben der überragenden Asmik Grigorian. Während es bezüglich der Stimme lediglich ein paar Details zu bemerken gibt, ist das bei der schauspielerischen Leistung ein wenig anders. Da gibt es doch Lücken, die unbedingt gefüllt werden müssen, um in Zukunft bei der Entwicklung und Darstellung der Rollen ein stimmiges und überzeugendes Gesamtbild zu vermitteln. Die Bewegungen sind insgesamt zu steif, und eine gewisse Natürlichkeit fehlt. Die Mimik ist auf wenige Ausdruckssvarianten beschränkt, und die Interaktion mit seiner Bühnenpartnerin gestern war leider auch zu wenig intensiv. Nichtsdestotrotz besitzt Brian Jadge eine starke und nicht zu leugnende Bühnenpräsenz., die ihm theoretisch alle Möglichkeiten einer guten szenischen Darstellung bietet, um jeden Charakter mit allen Facetten glaubwürdig zu verkörpern.

Wenn der aus New York stammende Opernsänger die vorhandenen Defizite auszugleichen vermag und ein paar Dinge besser gestalten lernt, steht einer großen und langen Karriere in der Opernwelt nichts mehr im Wege. Die Opernhäuser in aller Welt werden sich regelmäßig um ihn reißen.

(C) Michael Pöhn / Wiener Staatsoper


Der Star des Abends war aber die litauische Sopranistin Asmik Grigorian in der Titelpartie der zwischen Luxus und Liebe hin- und hergerissenen Manon Lescaut.

Sie ist eine Naturgewalt auf der Bühne, die sich während dieser Zeit ganz und gar mit ihrer Figur vereint, ohne jemals die Kontrolle über sich und ihre Stimme zu verlieren. Sie beherrscht die viel zitierte 'kontrollierte Extase' perfekt und ist so in der Lage, dem Opernpublikum unvergessliche Opernabende zu schenken. Die Partie der Manon Lescaut ist wie für sie geschrieben, stimmlich wie darstellerisch. Den Zwiespalt der jungen Frau, die zerrissen ist zwischen der Faszination für Luxus und der Sehnsucht nach ehrlicher Liebe, vermag die Ausnahmesängerin von der ersten Sekunde an überzeugend zu vermitteln. Ihre Bewegungen auf der Bühne wirken wie selbstverständlich, spontan. Ihr Spiel ist natürlich und unverstellt. Sie gehört zu den Sängern und Sängerinnen, die mit der einzigartigen Gabe gesegnet sind, zusammen mit ihrer außergewöhnlichen Stimme jede Figur in der Opernwelt zu verkörpern. Diese Tatsache beweist sie auch in der Wiederaufnahme der "Manon Lescaut" an der Wiener Staatsoper. Mit der schier unendlichen Ausdruckskraft und Variabilität ihrer Stimme überträgt sie die Gefühlswelt von Manon zwischen Sehnsucht, Liebe, Verzweiflung an die Zuschauer, und der ganze Raum ist erfüllt mit der Kraft der Musik. Die Höhen nimmt die Opernsängerin spielerisch leicht, die Passagen im Piani sind zart und zerbrechlich, die Ausbrüche im Forte kraftvoll und ausdrucksstark, die Textverständlichkeit ist ausgezeichnet. Asmik Grigorian ist eine Naturgewalt auf der Bühne, der sich wirklich niemand entziehen kann. Ich freue mich jetzt schon auf die nächsten Begegnungen auf der Opernbühne mit dieser außergewöhnlichen Künstlerin.

(C) Michael Pöhn / Wiener Staatsoper


Das hervorragende Orchester der Wiener Staatsoper unter der Leitung von Maestro Francesco Ivan Ciampa, lieferte eine gewohnt erstklassige Leistung ab, der Chor der Wiener Staatsoper scheint sich langsam wieder von den zahlreichen Corona-Ausfällen zu erholen und benötigte gestern keine zusätzliche Unterstützung mehr, sondern konnte wieder mit voller Kraft in Aktion treten. Das sind sehr erfreuliche Nachrichten, die hoffentlich anhalten werden. Der Schlussapplaus war am gestrigen Abend begeistert und herzlich, insgesamt aber recht kurz. Am Montagabend wollten wohl die meisten Opernbesucher schnell nach Hause. Für mich geht es heute Abend noch in die letzte Vorstellung von Peter Grimes, der bei uns in München am 28. Februar Premiere hat, und morgen dann zurück nach Hause. Der nächste Besuch in Wien ist zum Rigoletto im März geplant. An der Bayerischen Staatsoper stehen neben der Neuproduktion des "Peter Grimes" in der Regie von Stefan Herheim noch ein oder zwei Tosca-Vorstellungen an. Die letzten drei Rezensionen (Die Tote Stadt, Manon Lescaut und Peter Grimes, alle in der Wiener Staatsoper) sind in den nächsten Tagen hier auf meinem Blog zu lesen. Bis bald und bleibt mir bitte alle gesund!

(C) Michael Pöhn / Wiener Staatsoper


           Musik macht das Herz weich.

             Ganz still und ohne Gewalt

         macht sie die Tür zur Seele auf.

 

                        (Sophie Scholl)