Dunkle Schatten und einsame Seelen

G. Verdis Meisterwerk  Otello am Teatro San Carlo

in einer Neuproduktion von Mario Martone

          Hannah Klug / Wunderbare Welt der Oper

                            06.12.2021


(C) Teatro San Carlo Napoli / Luciano Romano


Ich habe lange keine Rezension mehr geschrieben und bin möglicherweise ein wenig aus der Übung. Man möge mir also nachsehen, wenn dieser Beitrag noch nicht so flüssig zu lesen ist wie gewohnt. Mir ist es eine wirkliche Herzensangelegenheit, Euch von meinen Eindrücken im Teatro San Carlo am 28. November sowie am 1. und 4. Dezember zu berichten, wobei mein persönliches Highlight die Vorstellung am 1. Dezember war. Die Vorstellung am 4. Dezember war dafür eine Überraschung, die ich nicht erwartet, aber erhofft hatte. So hatte auch der Abend eine ganz besondere Magie. Die Sitzpositionen bei der zweiten und dritten Vorstellung waren ganz besonders bühnennah, und somit übertrugen sich die Emotionen der Sänger und die Kraft von Verdis Musik auf eine sehr intensive Art und Weise auf mich. Die Besetzung im ältesten Opernhaus der Welt bei dieser Neuinszenierung von Mario Martone versprach schon im Vorfeld herausragende musikalische Erlebnisse und unvergessliche Stunden. Hier sind nun meine Eindrücke aus dem Teatro San Carlo. Ich habe mir mehrfach überlegt, wie weit und detailliert ich auf die Regie eingehen soll, die ich anfangs ein wenig skeptisch betrachtet habe. Nach den drei Vorstellungen muss ich aber zugeben, dass Mario Martone insgesamt ein stimmiges Bild von Verdis Oper "Otello" gezeichnet hat. Auf eine sehr intelligente, klare und einfühlsame Weise und mit einem Blick aus heutiger Sicht auf das Werk. Ganz besonders erfreulich ist, dass der Regisseur die wundervolle Musik Verdis und sein Meiserwerk mit viel Respekt behandelt und sehr behutsam die Geschichte in die Jetztzeit versetzt hat. Ein Millitärcamp in der Wüste irgendwo im Nahen Osten vielleicht. Die Menschen sind auf sich gestellt, ein Eindringen von außen ist kaum möglich. So sind die Protagonisten darauf angewiesen, ihre Konflikte ohne weitere Hilfe zu lösen oder letztendlich an ihnen zu verzweifeln und zu scheitern. Entweder der Zusammenhalt und das Vertrauen sind da, oder man geht an seiner Einsamkeit und dem Misstrauen zugrunde, wird hinabgerissen in einen Strudel aus negativen Gedanken und Gefühlen, die für immer alles Leben zerstören und auslöschen.

(C) Teatro San Carlo Napoli / Luciano Romano


Mario Martone rückt in seiner Interpretation von Verdis Otello das Menschliche in den Mittelpunkt, setzt die Beziehung und die Konflikte zwischen Mann und Frau in den Fokus des Geschehens. Inhaltlich geht es um den Femizid, die Gewalt und den Mord von Männern an ihren Frauen. Ein Thema, das auch heute noch schreckliche und grausame Realität überall auf der Welt ist. Ein Verbrechen aus Liebe angeblich, in Wahrheit aber die Ausübung von brutaler und sinnloser Gewalt. Das klingt möglicherweise alles sehr plakativ und heruntergebrochen auf einen kleinen Auszug. Aber nein, so habe ich das nicht empfunden, schon gar nicht bei solch herausragenden Sängerdarstellern auf der Bühne wie im Teatro San Carlo in Neapel, die sehr authentisch und einfühlsam ihre Figuren mit Leben erfüllen und die Zuschauer mitnehmen in eine Welt aus tiefen Gefühlen und Menschlichkeit. Die Menschen in Verdis Otello sind geprägt von großer Einsamkeit, Verzweiflung, Wut, Angst und Misstrauen, Hass und Eifersucht, aber auch von tiefer Liebe und großer Hoffnung. Und in Verdis überwältigend schöner Musik sind all diese Gefühle zu spüren, die Sänger müssen diese nur noch über ihren Gesang und ihre Darstellung erwecken und an die Zuschauer weitergeben. So füllte sich der Raum im wunderschönen Opernhaus, das eine beeindruckende Akustik hat, mit der unbeschreiblichen Magie von Verdis Musik und dem unausweichlichen Schicksal der Menschen  damals und heute. Bevor ich zu den drei Hauptdarstellern komme, noch ein Wort zu Chor, Orchester, Dirigent und den weiteren Sängern auf der Bühne, den sogenannten Nebenrollen. Jeder Dirigent und jeder Regisseur kann sich angesichts eines solch hervorragend zusammengesetzten Sängerensembles glücklich schätzen. So waren in Neapel auch die kleinen Rollen perfekt besetzt. Der Chor des Teatro San Carlo (der die Vorgabe hatte, mit Maske zu singen) unter der Leitung von José Luis Basso hatte wie in fast allen Opern von Verdi eine wichtige Rolle zu übernehmen und erfüllte diese mit Bravour. Das Orchester unter der Leitung von Maestro Michele Mariotti ging seine Aufgabe mit großer Leidenschaft und Konzentration an, und so wurden die Sänger und Darsteller auf der Bühne sanft durch den Abend getragen. Der Applaus am Ende war wohlverdient, wenn auch ein wenig kurz..

(C) Teatro San Carlo Napoli / Luciano Romano


Nun soll es aber endlich um die drei überragenden Hauptdarsteller gehen. Beginnen möchte ich mit dem Debütanten in dieser Premierenserie, dem Darsteller des Jago, Igor Golovatenko. Am 28. November war ich noch nicht eindeutig überzeugt von diesem Rollendebüt, es fehlte mir das Teuflische und auch die Kraft in der Stimme; der darstellerische Ausdruck insgesamt war da zu harmlos. Dieser Eindruck war in der darauffolgenden Vorstellung aber

vollständig verschwunden. Der Jago, der nun seine perfide Intrige gegen Otello sponn, war böse, grausam und gnadenlos. Die wunderschöne Stimme des russischen Baritons erstrahlte kraftvoll und ausdruckstark. Der Opernsänger machte diese Rolle zu seiner, gestaltete sie und demonstrierte seine beeindruckende Bühnenpräsenz.. Sein Jago trägt den Dämon in sich, weiß das sehr geschickt zu verbergen und ist erst bei genauerer Betrachtung böse. So gelingt es ihm, Otello zu täuschen und am Ende vollkommen auseinanderzunehmen und zu zerstören. Auch optisch wirkt der russische Bariton überzeugend, eine attraktive Erscheinung mit kraftvollen Bewegungen. Jago umschleicht Otello wie ein Raubtier, das jederzeit zum Sprung ansetzen kann, um sein ahnungsloses Opfer zu zerfleischen und zu töten. Den Hass, die Grausamkeit, das Gnadenlose projiziert der Opernsänger ebenso über seine angenehm warme und ausdrucksstarke Stimme. Ein Gesamtpaket, das man nur selten findet.

Igor Golovatenko wird man ganz sicher auch zukünftig in vielen spannenden Partien überall auf der Welt erleben können. Dafür alles Gute und viel Erfolg!

(C) Teatro San Carlo Napoli / Luciano Romano


Maria Agresta, die Desdemona dieser Neuproduktion, singt diese Partie nicht das erste Mal, auch nicht das erste Mal mit Jonas Kaufmann. Beide Sänger standen im Jahre 2017 bereits schon einmal zusammen für diese Oper auf der Bühne. Damals gab der deutsche Weltstar sein gefeiertes Debüt als Otello in Covent Garden. Nun gab es also die Wiedervereinigung auf der Bühne des Teatro San Carlo, in einer zu London sehr unterschiedlichen Lesart. In Neapel ist Desdemona keine schwache und wehrlose Frau, die sich ihrem Schicksal einfach ergibt. Hier ist Otellos Ehefrau ein Mensch, der für seine Überzeugungen einsteht und bereit ist, dafür zu kämpfen und wenn notwendig auch dafür zu sterben. Desdemona ist eine angesehene Soldatin und engagierte Ärztin. Auch wenn ihr Mann ihr Vorgesetzter ist, agieren beide auf Augenhöhe. Sie ist keine schwache demütige Frau, die sich vor ihrem Mann ducken muss. Im Gegensatz zu Otello ist sie jemand, der an die Menschen glaubt und geprägt ist von einem tiefen Vertrauen in ihr Umfeld. Bei alldem ist aber auch Desdemona verletzbar. In den Augenblicken, in denen sie von ihrem Mann verbal aber auch körperlich angegriffen wird, ist sie tief in ihrer Seele getroffen. Trotzdem lässt sie sich nicht davon abhalten, an das Gute zu glauben, an die Kraft von Menschlichkeit, Liebe und Vergebung. Sie setzt sich für andere ein und kämpft bis zur letzten Sekunde um ihr Leben, wenn Otello sie mit furchtbarer Gewalt erbarmungslos aus diesem reißt. Auch Maria Agresta hat mich nicht von Beginn an überzeugt, abgesehen vom letzten Akt, wo sie mich von der ersten Sekunde an tief berührt hat. Am Abend des 1. Dezember hatte auch sie sich frei gespielt, beeindruckte stimmlich und darstellerisch in jedem Moment.

Die italienische Sängerin hat genau wie Jonas Kaufmann eine sehr natürliche Art zu spielen, vermittelt sehr authentisch die Gefühle und die Handlungsweise ihrer Protagonistin. Maria Agresta hat eine angenehme Stimme, kein starkes Vibrato oder klingt gar schrill. Sie ist in der Lage, sowohl kraftvoll und dramatisch zu singen als auch in anderen Momenten zart und leise. Die Textverständlichkeit ist wie bei ihren zwei Kollegen exzellent. Maria Agresta singt ebenso wie Igor Golovatenko alle Otello-Vorstellungen am Teatro San Carlo.

(C) Teatro San Carlo Napoli / Luciano Romano


ES gibt zur Zeit nicht viele Tenöre, die in der Lage sind, die höchst anspruchsvolle Partie des Otello zu 100% auszufüllen, stimmlich und darstellerisch. Diese Rolle verlangt dem Sänger einiges ab und wird zu Recht als Mount Everest unter den italienischen Opernpartien bezeichnet. Das Teatro San Carlo durfte sich nun glücklich schätzen, den Opernbesuchern im Saal Jonas Kaufmann präsentieren zu dürfen. Der deutsche Weltstar aus München, dessen Sehnsuchtsland bekanntermaßen Italien heißt, gibt in dieser Neuproduktion in Neapel sein Hausdebüt als Otello. Außerdem ist es die erste komplette szenische Produktion auf der Bühne des Teatro San Carlo. Für den 52-jährigen Opernsänger ist es nach seinem Rollendebüt in London 2017 und dem Hausdebüt in seiner Heimatstadt München 2018 nun das dritte Mal, dass er den Part des eifersüchtigen Kriegsherrn übernimmt. Drei Produktionen, drei unterschiedliche Lesarten, drei unterschiedliche Interpretationen, und jedes Mal überzeugte Jonas Kaufmann durch seine intensive und authentische Darstellung. Auch in Neapel zeigte der deutsche Ausnahmesänger, warum er zu den Besten seines Fachs zählt, und wie detailliert er es versteht, eine Rolle auszuarbeiten. Sein Otello ist hier auf den ersten Blick ein erfolgreicher Heerführer, dem seine Untergebenen mit Bewunderung und Anerkennung begegnen. Seine Frau, die als Ärztin und Soldatin ebenfalls eine angesehene Position bekleidet, behandelt er zumindest im ersten Akt mit  Liebe und Respekt.

Das Liebesduett ist zärtlich, und der Münchner Opernsänger offenbart hier gegenüber Desdemona berührend die ganze Verletzlichkeit seiner Figur und dessen Unerfahrenheit in Liebesdingen.

Diese Darstellung verdeutlicht auf kluge Weise den Kontrast zu dem, was danach gleich zu Beginn des zweiten Aktes folgt, als Jago beginnt, sehr geschickt Zweifel an Desdemonas Treue in Otello zu wecken. Die Wandlung nimmt seinen Lauf, und Otello fängt an sich zu verändern. Das Gift Jagos beginnt zu wirken. Die Abwärtsspirale, in die der erfolgreiche Soldat gerät und den Sog, der ihn immer tiefer in seinen Wahn zieht, verkörpert der deutsche Weltstar realistisch und mit ausgesprochener Tiefe. Er nimmt uns mit in die Abgründe von Otellos Seele, gibt Einblicke in dessen Verrücktheit, zeigt schonungslos seine verbale und körperliche Gewalt, aber auf der anderen Seite auch seine Hilflosigkeit und Unwissenheit in Sachen Liebe, Frauen und Beziehungen. Otello ist erfüllt von Misstrauen, das auch vor Desdemona keinen Halt macht. Zerfressen von Eifersucht, aber auch der Angst, aufgrund ihrer angeblichen Untreue sein Gesicht zu verlieren, verschwimmen alle Grenzen. Er steigert sich immer mehr in seine schrecklichen Fantasien hinein und begreift nicht, dass er so grausam von Jago getäuscht wird. Jonas Kaufmann hat sehr fein sämtliche Facetten seiner Figur herausgearbeitet, jede noch so kleine Veränderung in Otellos Charakter ist auch in seiner ausdrucksstarken Stimme, die beeindruckende drei Oktaven umfasst, zu vernehmen und parallel dazu in jeder Mimik und Gestik. Der deutsche Weltstar zeigt auch in Neapel seine außergewöhnlichen darstellerischen Fähigkeiten, weshalb ihm die fast cineastische Personenführung von Regisseur Mario Martone sehr entgegenkommt. Der 52-Jährige weiß seine Zuschauer zu fesseln, zu berühren und ihnen in die Seele zu blicken. Stimme, Gesichtsausdruck und Gestik sind eine Einheit, untrennbar miteinander verbunden. Er ist jederzeit präsent und gibt immer 200%. Seine Ausbrüche im Forte sind gewaltig, die Pianissimi unfassbar zart und dennoch in der letzten Reihe des Opernhauses zu hören. Den Kontrast in Otellos Charakter und seine Dartellung sind besonders eindrucksvoll im letzten Akt zu erleben. Nachdem Otello seine junge Ehefrau äußerst brutal und ohne jede Gnade erwürgt hat, eine hier wirklich erschreckend realistisch dargestellte Szene von Jonas Kaufmann und Maria Agresta, tötet sich der Reumütige verzweifelt selbst und stirbt einsam, ohne Abschied von dem Menschen nehmen zu können, der ihn vermutlich als einziger und allein so geliebt hat, wie er war. Und so wird aus dem brutalen Mörder eine einsame Seele und ein Mensch, dem die Vergebung vewehrt bleibt.

(C) Teatro San Carlo Napoli / Luciano Romano


Das waren sie nun, meine Eindrücke von der neuen Otello-Inszenierung am Teatro San Carlo in Neapel. Drei unvergessliche Vorstellungen, mit dem Fokus auf dem 1. Dezember. Ich bin auch jetzt noch gefangengenommen von der ungeheuren Intensität, die jede Sekunde von den wunderbaren Sängerdarstellern auf der Bühne erzeugt wurde. Ich war erschüttert, tief berührt, gefesselt und verzaubert. Die Musik Verdis ist ein solch großes Geschenk an die Menschheit, die Geschichten sind noch genauso aktuell wie vor 100, 200 oder 300 Jahren, weil es um Menschen geht, mit all ihren Stärken und Schwächen, ihren Unzulänglichkeiten und allem, was uns als Individuen ausmacht. Das ist der Grund, warum wir uns dieser Musik und diesen Geschichten so verbunden fühlen, uns immer auch darin wiedererkennen. Darum berühren sie uns so sehr und treffen uns tief ins Herz. Die Werke sind gemacht für die Ewigkeit. Wenn man noch das Glück hat, eine solch traumhafte Besetzung von Sängern zu erleben, die mit soviel Einsatz, Gefühl und einem großen Respekt für die Musik die Welt Verdis zum Leben erwecken, bleiben keine Wünsche offen.

Ich bin erfüllt von tiefer Dankbarkeit, dass ich all das erleben durfte, in einer Zeit, die uns wieder einmal soviel abverlangt und in der es keine Sicherheit und Beständigkeit gibt. Ich bin mittlerweile wieder zu Hause in München angekommen und habe diesen Bericht für Euch geschrieben, der Euch hoffentlich ein wenig mitnimmt auf (m)eine wunderschöne musikalische Reise. Ich sage bis bald und wünsche allen eine wunderschöne Adventszeit und jetzt schon ein frohes Weihnachtsfest. Spätestens zum "Peter Grimes" an der Wiener Staatsoper im Januar und Februar nächsten Jahres melde ich mich wieder. Vorher gibt es noch die Eindrücke vom Weihnachtskonzert am 22. Dezember im Wiener Konzerthaus und Jonas Kaufmann, der nun auch live sein Weihnachtsalbum präsentieren kann. Die Mini-Tour von 4 Konzerten startet am 12. Dezember im Rosengarten in Mannheim.


"Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist"

 

                          (Victor Hugo)