Gelebte Magie des Augenblicks

- die Münchner "Lucia di Lammermoor" in überragender Besetzung!


     Von Hannah Klug / Wunderbare Welt der Oper

                     26. März 2022

(C) Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper


             Auf dem Weg zum Opernglück

Es gibt Vorstellungen in der Oper oder im Theater, die tatsächlich eine ganz besondere Magie verströmen, den Zuschauer in eine Art Schwebezustand versetzen und uns Glückszustände wie nur ganz selten erleben lassen. Adrenalin pumpt durch die Adern, nicht nur durch die der Sänger auf der Bühne, und verursacht eine Art Rauschzustand, der noch Stunden danach anhält und von dem man noch lange Zeit zehrt. Die Musik und all das, was wir spüren, fühlen, hören und erleben, reinigt unsere Seele von Grund auf. Dieser Prozess der inneren Reinigung und Klärung wird auch mit dem Ausdruck "Katharsis" bezeichnet.

Die letzte Vorstellung der "Lucia die Lammermoor" an der Bayerischen Staatsoper am 24. März 2022 beschreibt nun genau diesen Prozess und ist ein kostbares und wunderbares Geschenk, das bewahrt werden will. Die überragende Besetzung, die den Zuschauern im Münchner Nationaltheater diesen unvergesslichen Abend bescherte, war übrigens nicht die ursprünglich geplante. Nicht nur die zwei Darsteller von Lucia Ashton und  Sir Edgardo di Ravenswood, verkörpert von Nadine Sierra und Charles Castronovo, sorgten für musikalischen Hochgenuss und Gänsehaut im weitgehend ausverkauften Opernhaus am Max-Joseph-Platz. Auch der noch sehr junge polnische Tenor Andrzej Filónczyk machte ein weiteres Mal in einer Vorstellungsserie an der Bayerischen Staatsoper auf sich aufmerksam. Der 27-jährige Bariton übernahm in München die Partie von Lucias Bruder, Lord Enrico Asthon, und sang alle vier Abende auf einem konstant hohen Niveau. Die vierte Hauptpartie, die des Pater Raimondo Bidebent, übernahm der italienische Bariton Riccardo Zanellato, der hiermit auch sein Hausdebüt in München gab. Er reihte sich mit seiner Darbietung nahtlos auf dem hohen Niveau seiner Kollegen ein.

(C) Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper


  Beste Voraussetzungen für einen perfekten Abend

Unbedingt erwähnen muss man noch drei weitere junge hochbegabte Sänger, die in kleineren Rollen in der Lucia zu erleben waren:. als erstes Daria Proszek als Alisa, Lucias treu ergebene Freundin, dann Caspar Singh als Normanno, der im Sinne eigener Interessen seine fiesen Intrigen spinnt, und nicht zuletzt Granit Musliu als Arturo Bucklaw, mit dem Lucia von ihrem Bruder zwangsverheiratet wird, um die Familie und ihr Vermögen zu retten. Jedes dieser drei jungen Talente trug zum Erfolg der neusten Lucia-Aufführungsserie bei, allen voran die zwei Tenöre Caspar Singh (ist nach dem Opernstudio ins feste Ensemble gewechselt) und Granit Musliu (ist Mitglied im Opernstudio seit 2021/22). Daria Proszek wechselte mit der Saison 2021/22 vom jungen Opernstudio ins Ensemble der Bayerischen Staatsoper. Von allen Dreien werden wir auch zukünftig sicher eine Menge zu hören und zu sehen bekommen, da bin ich hundertprozentig sicher.

Bevor es noch einmal detailliert um die drei Hauptdarsteller Nadine Sierra, Charles Castronovo und Andrzej Filónczek geht, noch einige Worte zum Chor, Orchester und dem Dirigenten des Abends, Evelino Pidò. Unserem wunderbaren Staatsopernchor gehören auch dieses Mal wieder großes Lob und Anerkennung. Die Sänger und Sängerinnen trugen wie immer zu einer dichten und intenisven Atmosphäre auf der Bühne bei und unterstrichen einzelne Szenen mit stimmlicher und darstellerischer Darstellungskraft. Der Chor der Bayerischen Staatsoper wird zu Recht immer wieder ausgezeichnet und ist Garant für spannende, musikalisch hochkarätige und mitreißende Opernabende. Die musikalische Leitung hatte dieses Mal der italienische Dirigent Evelino Pidò, der als ausgewiesener Experte für die Werke von Gaetano Donizetti gilt und besonders für die puristische Urfassung der "Lucia di Lammermoor", die im Februar 2019 an der Wiener Staatsoper zur Aufführung kam. So waren seine Musiker und die Sänger in den allerbesten Händen, und die vier Vorstellungen wurden auch durch ihn zu einem besonderen Erlebnis.

Die Inszenierung von Barbara Wysocka, die am 26. Januar 2015 in München Premiere feierte, ist auch nach sieben Jahren immer noch genauso eindringlich und fesselnd und gehört zu den Produktionen, die hoffentlich noch lange zu erleben sein werden. Die Handlung und die Musik werden gleichfalls mit großem Respekt behandelt und stehen jederzeit im Mittelpunkt. Die Erzählsprache ist klar, ehrlich und berührend, das Bühnenbild nicht überladen oder gar verzerrt und ins Lächerliche gezogen. So etwas gibt es leider heute bedauerlicherweise nur noch sehr selten.

(C) Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper


       Andrzej Filónczek - Lord Enrico Ashton

Der junge polnische Bariton Andrzej Filónczek in der Partie des Lord Enrico Ashton gehört zu den tollen Überraschungen der Münchner Lucia 2022, auch wenn es nicht sein erster Auftritt an der Bayerischen Staatsoper ist und der Bariton bereits international auf sich aufmerksam gemacht hat. Die Bühnenpräsenz die der 27-Jährige an den Tag legte und die ausdrucksstarke gesangliche Interpretation sind keine Selbstverständlichkeit in diesem Alter und zeigen das wirklich große Talent des polnischen Opernsängers, der sicherlich eine große Karriere vor sich hat. Die warme Stimme kann mit vielen verschiedenen Nuancen aufwarten, ist kraftvoll, ausdrucksstark und transportiert die zahlreichen menschlichen Gefühle klar und ohne Umwege in die Herzen der Zuschauer. Sein Enrico ist am Ende nicht brutal, kalt und skrupellos, sondern verzweifelt und in auswegloser Situation. So verschachert er seine Schwester an denjenigen, der in der Lage ist, ihn aus seiner Misere zu ziehen, ohne an die Gefühle und das Schicksal von Lucia zu denken. Erst als sie dem Wahnsinn verfällt und ihren Ehemann in einem Anfall geistiger Umnachtung tötet, wird ihm bewusst, was er angerichtet hat, und er bereut seine Taten. Andrzej Filónczek versteht es genau, diese Zerrissenheit stimmlich und darstellerisch dem Zuschauer näher zu bringen. Die natürliche Spielfreude und die Lust, sich in den zu verkörpernden Charakter intensiv hineinzuversetzen, sind ein Teil des großen Talents, das ihn noch weit bringen wird.

(C) Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper


Charles Castronovo - Sir Edgardo di Ravenswood

Nachdem Juan Diego Flórez die ersten zwei Vorstellungen in München eingesprungen war - anders bekommen wir solche Sänger vermutlich zukünftig kaum noch zu sehen - hat Charles Castronovo die Aufführungen Nummer drei und vier übernommen. Ein übergroßer Glücksfall, neben der Einspringerin Nadine Sierra in der Titelpartie. Wie uns der amerikanische Tenor im Anschluss an der Bühnentür verriet, dürfen wir auch in der nächsten Zeit mit seiner sehr regelmäßigen Anwesenweit in unserem wunderschönen Nationaltheater rechnen. Das sind in der Tat sehr erfreuliche Nachrichten. Aber zurück zur Lucia am 24. März. Man würde bei der insgesamt für einen Tenor recht dunkel gefärbten Stimme nicht gleich vermuten, dass die Partie des Edgardo bei dem 46-jährigen Opernsänger mit den italienisch-südamerikanischen Wurzeln bestens aufgehoben ist und nur das Beste zu Tage bringt. Der temperamentvolle Charakter Edgardos ist dem Tenor wie auf den Leib geschrieben und auch gesanglich perfekt für ihn. Charles Castronovo verfügt über eine große Bandbreite an Klangfarben und einen großen Stimmumfang, die es ihm ermöglichen, nicht nur die hohen Spitzentöne mit großer Leichtigkeit zu bewältigen, sondern auch die in der warmen und klangvollen Mittellage. Edgardos leidenschaftliche Ausbrüche offenbaren Kraft und Ausdrucksstärke, die zarten und feinen Piani zeigen Schmerz und Verzweiflung in ihrer reinsten Art. Auch die schauspielerische Qualität des amerikanischen Opernsängers ist beeindruckend; sie berührt, fesselt und ermöglicht es, sich der Figur von Lucias Geliebten noch näher zu fühlen und seine tiefe Verzweiflung und seinen abgrundtiefen Schmerz zu spüren. Wenn Charles Castronovo sich am Ende in seiner Partie des Edgardo das Leben nimmt und blutend seinen dramatischen Bühnentod stirbt, um endlich wieder mit der Liebe seines Lebens vereint zu sein, müssen schlichtweg auch beim letzten Zuschauer die Dämme brechen. Wer da nicht tief mitgenommen zum Taschentuch greifen musste, dem ist wahrlich nicht zu helfen. An der Bühnentür hat uns der sympathische Künstler übrigens noch ein weiteres kleines Geheimnis verraten: Er liebt es nämlich, auf der Bühne eines dramatischen Todes zu sterben. Na denn, solange es nicht im wahren Leben geschieht! Als nächstes steht der Opernsänger mit dem charmanten Lächeln Ende Mai/Anfang Juni bei uns in München auf der Bühne. Dann gibt er dort als Pinkerton an der Seite von Ermonela Jaho in "Madama Butterfly" sein internationales Rollendebüt. Ich wünsche ihm jetzt schon TOI TOI TOI, eine gute und erfolgreiche Probenzeit und freue mich jetzt schon auf die drei Vorstellungen auf der Bühne des Nationaltheaters.

(C) Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper


             Nadine Sierra - Lucia Ashton

Nadine Sierra war wie ein Sechser im Lotto, als sie sich bereit erklärte, die Titelpartie für alle vier Aufführungen an der Bayerischen Staatsoper zu übernehmen, und erstaunlicherweise war sie einem größeren Teil des Münchner Publikums unbekannt. Ich persönlich verfolge ihre internationale Karriere schon längere Zeit, hatte aber bisher nie das Glück, die amerikanische Sopranistin live auf der Opern- oder Konzertbühne zu erleben. Umso mehr habe ich mich über ihr Einspringen gefreut und mich gleich mit drei Eintrittskarten versorgt. Die erste Vorstellung musste ich leider aus terminlichen Gründen auslassen. Ich habe jeden ihrer Auftritte von der ersten bis zur letzten Sekunde genossen und sie als eine überragende Sängerin und Idealbesetzung für die Partie der Lucia erlebt. Die Rolle der Lucia Ashton gehört zu den liebsten Figuren, die die Sängerin auf der Bühne verkörpert. Gerade probt Nadine Sierra an der Metropolitan Opera in New York die nächste Produktion, für die sich am 23. April der Vorhang hebt. Die 33-jährige Opernsängerin hat sich ihre derzeitige Lieblingsrolle ganz zu eigen gemacht und scheint eine tiefe Verbundenheit mit Lucias Charakter aufbauen zu können. Ihre Stimme meistert mühelos und mit unglaublicher Leichtigkeit jede Schwierigkeit dieser Partitur. Die Töne schienen einfach im Raum zu schweben, jeder Spitzenton saß perfekt, ihre Koloraturen waren makellos, und trotzdem klang alles so natürlich und aufgeladen mit Emotionen, die die Sopranistin direkt in die Herzen ihrer Zuschauer transportierte. Es gab keine scharfen Töne, kein unangenehmes Vibrato, die Stimme klang weich und zart, ausdrucksstark und kraftvoll zugleich. Alles schien schwerelos ineinander zu gleiten und verband sich zu einem wunderbaren Ganzen.

Auch darstellerisch verfügt die Amerikanerin über eine sehr natürliche Art, ihre Figur zu interpretieren und ihren Zuschauern näher zu bringen. Mimik, Gestik wirken so, als würde sie die Situationen und das Schicksal ihrer Figur genauso empfinden und durchleben. Wie auch ihre Sängerkollegen Charles Castronovo und Andrzej Filónczyk hält sie durchgehend die Verbindung zu ihrer Figur, auch wenn sie selber gar nicht singt. So gibt es keine Brüche in der Geschichte, und die Erzählung behält ihre Intensität. Nadine Sierra ist eine wunderbare Sängerin und Darstellerin, und ich hoffe aus tiefem Herzen, dass sie nun auch an der Bayerischen Staatsoper regelmäßig zu Gast sein wird. Die Münchner haben sie von nun an auf ihrem Radar und zudem in ihr Herz geschlossen. Und Nadine Sierra geht es nicht anders. Auch sie haben wir nach der letzten Vorstellung an der Bühnentür getroffen und auch privat als unglaublich offen, natürlich und sympathisch kennengelernt. Die Opernsängerin hofft ebenfalls auf ein Wiedersehen, sie hat sich nämlich in München sehr wohl gefühlt. Dann sage ich hoffentlich bis ganz bald, liebe Nadine Sierra!

(C) wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper


                         Resümee

An diesem Abend gab es nicht nur begeisterten Zwischenapplaus, auch der Schlussapplaus war von der riesigen Begeisterung des Publikums geprägt, das kurz nach Betreten der Sänger bereits von seinen Sitzen gesprungen war und voller Enthusiasmus seine Freude kundtat. Bravo, Bravo-Rufe tönten durch das ganze Nationaltheater, und es gab niemanden im Saal, der nicht den Sängern, Orchestermusikern samt Dirigenten seine große Anerkennung und Dankbarkeit entgegengebracht hätte. Diese wiederum strahlten miteinander um die Wette und nahmen äußerst dankbar und hochverdient die Glückwünsche des Münchner Publikums entgegen. Für den perfekten Abschluss gab es noch ein freudiges Treffen mit den Künstlern an der Bühnentür. Besonders Nadine Sierra und Charles Castronovo genossen ganz offensichtlich das Zusammentreffen mit den überwiegend Münchner Fans, waren noch voller Adrenalin von der gerade beendeten letzten Vorstellung und in Plauderlaune. Es wurden fleißig Selfies gemacht, Autogramme gegeben und es wurde auch geknuddelt und gedrückt. Den Rest habe ich zwischendurch bereits erzählt. Nachdem sich die zwei Opernsänger ausführlich Zeit für die begeisterten Opernfans genommen hatten, trennte man sich, immer noch beseelt von der Musik, nicht ohne sich vorher zu versprechen, dass es auf jeden Fall ein Wiedersehen gibt.

Meine nächsten Programmpunkte sind dann am 24. April die erste Vorstellung von "Macbeth" mit Ludovic Tézier und Freddie de Tommaso in München, evt. die "Lucia" mit Benjamin Bernheim und Lisette Oropesa an der Wiener Staatsoper am 19. April und die "Tosca" mit Jonas Kaufmann am Teatro San Carlo in Neapel am 27. & 30. April.

(C) Bayerische Staatsoper / Instagram


    Die Musik ist der Gesang der Jahrhunderte

   und die Blume der Geschichte. Sie entspringt

  dem Schmerz wie der Freude der Menschheit

 

                       (Romain Rolland)